In Kunden-Projekten sehen wir immer wieder: UX-Research wird in vielen Unternehmen stiefmütterlich behandelt.

Ein typisches Szenario: Anforderungen für Produkte oder einzelne Features kommen aus der Business-Unit. Anschließend hat das Produktteam nicht mehr viel Spielraum, diese Requirements anzupassen. Wozu dann überhaupt noch UX-Research durchführen? Das Produktteam macht sich also direkt an die Umsetzung.

Warum das zu großen Problemen führen kann und wie UX-Research sogar einfacher als Usability-Testing wird, erfährst du in diesem Beitrag.

  1. Ohne UX-Research: Produkte ohne Mehrwert für die Nutzenden
  2. Mit UX-Research: Produkte, die eure Nutzenden lieben
  3. Wann sollte man UX-Research durchführen?
  4. UX-Research-Methoden und -Tools für die agile Produktentwicklung
  5. Best-Practices: UX-Research-Fragen formulieren
  6. Fazit: UX-Research ist sogar einfacher als Usability-Testing

UX-Research vs. User-Research vs. Usability-Testing

UX-Research, User-Research und Usability-Testing werden oft synonym verwendet. Für diesen Artikel möchte ich die eigentliche Bedeutung der drei Begriffe jedoch deutlich voneinander abgrenzen.

Bei User-Research geht es allgemein darum, die Zielgruppe besser kennenzulernen – ihr Verhalten, ihre Bedürfnisse, Wünsche und Motivationen, aber auch Herausforderungen und Probleme. Hierfür können verschiedenste qualitative und quantitative Methoden herangezogen werden (bspw. Beobachtungen, Interviews oder quantitative Befragungen).

Bei der UX-Research geht es weniger um diese allgemeinen Daten zur Zielgruppe, sondern um die konkreten Anforderungen der User, bspw. zu einem geplanten Feature oder neuen Produkt. Es geht darum, anwendbare Erkenntnisse zu gewinnen, die in den User-Centered-Designprozess einfließen und unmittelbar zu einer Verbesserung der User-Experience führen.

In Usability-Tests wird die Gebrauchstauglichkeit bzw. Usability (als einen Bestandteil von User-Experience) von Produkten erfasst, um sie zu optimieren und nutzerfreundlicher zu gestalten. Erkenntnisse über die User sind hier maximal ein Beiprodukt und nicht das eigentliche Ziel der Tests. In einem Usability-Test wird getestet, ob ein definiertes Ziel (bspw. der Kauf eines Zugtickets) durch den User effektiv, effizient und zufriedenstellend erreicht werden kann.

Ohne UX-Research: Produkte ohne Mehrwert für die Nutzenden

Aber was passiert denn nun, wenn UX-Research (und User-Research) strukturell vernachlässigt werden? Klar, am Anfang fehlt die Ausrichtung an den Anforderungen der User. Lassen sich diese Lücken durch regelmäßige Usability-Tests während der Entwicklung nachholen?

Nein, denn Usability-Tests zeigen zwar, wo es Usability-Probleme gibt oder wie die User Experience optimiert werden kann. Aber sie zeigen nicht unbedingt, ob das Produkt oder das Feature überhaupt einen Mehrwert für die Zielgruppen bietet.

Es wird also ein Produkt entwickelt, ohne überhaupt die konkreten Herausforderungen der Nutzenden zu kennen.

Die Lösung wird vorweggegriffen, ohne das Problem überhaupt verstanden zu haben.

Die Folge:

Das neue Feature wird gelauncht – es sieht fancy aus und hat sogar eine gute Usability, weil Nutzende durch Tests involviert waren. Leider bietet es im schlimmsten Fall keinen Mehrwert, weil die Bedürfnisse, Probleme, Ziele etc. der Nutzenden nicht verstanden wurden. Man hat sich rein auf die Business-Anforderungen und die technischen Anforderungen verlassen, die Nutzungsanforderungen wurden nicht erhoben. Das Ergebnis: Verschenkte Zeit und verschenktes Geld.

Prozesse zur UX-Optimierung mit und ohne UX-Research

Nur mit UX-Research im User-Centered-Designprozess entwickelt man von Anfang an ein Produkt mit Mehrwert für die Nutzenden. Ohne UX-Research kommen früher oder später große UX-Probleme zum Tragen oder es wird sogar komplett am eigentlichen Problem der Nutzenden vorbeientwickelt.

Mit UX-Research: Produkte, die eure Nutzenden lieben

Der Entwicklungsprozess neuer Produkte und Features bzw. die Optimierung von Features sollte deshalb mit UX-Research beginnen.

Mit Research

  • werden Produkte mit echtem Mehrwert geschaffen, weil wir verstehen, was unsere Zielgruppen benötigen.
  • evaluiert und validiert man Ideen frühzeitig und könnt sie anpassen und optimieren, bevor auch nur ein Wireframe erstellt oder eine Zeile Code geschrieben wurde.
  • priorisiert man bestehende Ideen (aus dem Backlog) nach dem Nutzen für die Zielgruppe.
  • identifiziert man, wo Bedarf für neue Produkte, Services, Features etc. besteht. UX-Research hilft also auch, auf neue Ideen zu kommen.
  • bekommt man Argumente für Stakeholder-Diskussionen.

Ja, UX-Research kostet etwas Zeit. Insgesamt gesehen spart sie aber sogar Zeit. Warum? Man geht sicher, dass man den Nutzenden einen echten Mehrwert bietet, statt nach dem Launch wieder zurückrudern zu müssen.

Noch dazu liefern Research-Erkenntnissen eine solide Argumentationsgrundlage, die in Diskussionen mit dem Management und anderen Stakeholdern Zeit und Nerven spart.

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Wann sollte man UX-Research durchführen?

UX-Research sollte so früh wie möglich im Entwicklungsprozess stattfinden.

Grundsätzlich gilt: UX-Research beginnt schon vor der Idee bzw. Lösung und begleitet die Produktentwicklung kontinuierlich.

Mit User-Research versteht man die Probleme der Zielgruppen, kann daraus Anforderungen ableiten und auf deren Basis Ideen für Produkte und Services entwickeln.

Anforderungen, Herausforderungen und Rahmenbedingungen können sich ändern und nur mit kontinuierlicher Research (am besten auch in Verbindung mit (UX-)Kennzahlen) erkennt man frühzeitig, wo Handlungsbedarf besteht.


UX-Research im User-Centered-Design-Prozess

UX-Research am Anfang des User-Centered-Designprozesses

UX-Research sollte am Anfang jedes Projektes stehen und auch innerhalb des Entwicklungsprozesses kontinuierlich eingebunden werden.



UX-Research-Methoden und -Tools für die agile Produktentwicklung

Sprint 0

Die Integration von UX-Research in agile Prozesse kann zum Beispiel mit dem Sprint 0 gelingen.

Der Sprint 0 ist ein vorgelagerter Sprint, der vor der Konzeption und dem Design stattfindet. Hier findet die initiale UX-Research statt, zum Beispiel mit dem Ziel, mit User Stories in den eigentlichen Entwicklungssprint zu starten.

Hier lest ihr mehr über UX-Research in Sprint 0.

Wichtig: Damit ist es noch nicht getan. UX-Research sollte kontinuierlich auch in den weiteren Entwicklungsprozess eingebunden werden.

Remote-Interviews

Mit RapidUsertests können Remote-Interviews innerhalb kürzester Zeit geplant und durchgeführt werden. Die Rekrutierung und Terminplanung übernimmt das Tool. So können die Interviews oft bereits am nächsten Tag starten.

Democratize UX

Am einfachsten gelingt agile UX-Research, in dem alle Beteiligten regelmäßig mit der Zielgruppe sprechen – und wenn es nur ein paar kurze 15-minütige Remote-Interviews sind. Das bedeutet, dass nicht nur die UX-Researcherin oder der UX-Designer die Interviews führen, sondern auch die Product-Ownerin oder der Produktmanager.

Im Bestfall werden sogar Menschen aus der Business-Unit oder Abteilungen wie Marketing und Vertrieb dazu befähigt, Interviews mit den Zielgruppen zu führen. Schließlich kommen von ihnen oft (zu konkrete) Produktideen, die Lösungen vorwegnehmen, bevor das Problem überhaupt verstanden wurde.

Wenn jeder mal mit der Zielgruppe spricht, bekommen ALLE ein Verständnis für den Problemraum der Nutzenden, statt immer nur über Lösungen zu sprechen.

Zielgruppenwissen und -verständnis sollten auf keinen Fall nur dem UX-Research-Team vorenthalten sein.

Best-Practices: UX-Research-Fragen formulieren

Reines Usability-Testing ist also nicht ausreichend, um Produkte mit Mehrwert zu schaffen. Interviews hingegen sind eine einfache und effiziente Art, die Bedürfnisse, Probleme, Wünsche, Bedenken und Motivationen von Nutzenden zu erheben und daraus konkrete Anforderungen abzuleiten.

In Interviews führt man einfach ein Gespräch mit den Nutzenden und benötigt kein konkretes Testobjekt (z.B. Wireframes, Prototypen oder fertige Websites/Apps), wie es bei Usability-Tests der Fall ist.

Gerade in der agilen Entwicklung ist es unerlässlich, Interviews ohne großen Planungsaufwand oder komplizierte Dokumentation durchführen zu können. Hier kommen Remote-Interviews ins Spiel, die Interviewenden und die Interviewten befinden sich also nicht am selben Ort.

Hier noch einige Best-Practices zur Interview-Führung:

Vorab: Mindset / Zielsetzungen

Bei Interviews geht es darum, herauszufinden, wie die Zielgruppen mit bestimmten Situationen aktuell umgehen und welche Probleme, Bedürfnisse, Wünsche und Bedenken sie dabei haben.

Ein Beispiel: Eine Fastfood-Kette wollte den Umsatz ihrer Milkshakes an Auto-Raststätten erhöhen und führte daher Interviews. Sie fragten die Teilnehmenden „Wie können wir unsere Milkshakes besser machen – sollen wie schokoladiger, süßer, farbiger sein?“ und passten die Rezeptur entsprechend der Ergebnisse an. Der Umsatz blieb der gleiche, die Interviews haben nichts gebracht.

UX-Research zu Milkshakes – Bild von zwei Milkshakes

Erst eine tiefergehende Kontextanalyse zeigte, was die Autofahrenden wirklich brauchten: Viele von ihnen waren frühmorgens unterwegs und saßen allein im Auto und statt eines Milkshakes kauften sie eher einen Schokoriegel oder eine Banane. Sie brauchen also einen Snack, der schnell fertig ist, lange hält, für den sie nur eine Hand benötigen und der satt macht. Statt der Rezeptur optimierte die Fastfood-Kette nun also die Lieferzeit, die Verpackung / den Strohhalm und machte den Milkshake nahrhafter.

Um die wahren Motivationen der Nutzenden herauszufinden, sollten sich die Interviews entlang der Customer Journey bewegen und erfragen, wie die Nutzenden einzelne Schritte aktuell bewältigen.

Aus diesen Erkenntnissen können dann Produktideen abgeleitet werden.

Es geht NICHT darum, zu fragen, ob die Zielgruppe lieber eine App mit Feature A oder Feature B nutzen würde, denn auch dann weiß man nicht, ob die Zielgruppen die App ÜBERHAUPT nutzen würden und ob sie ihnen Mehrwert bietet.

Erstelle einen (groben) Interview-Leitfaden

Mit einem Interview-Leitfaden stellt man sicher, dass in allen Interviews die wichtigsten Fragen gestellt und beantwortet werden. Nur so ist später auch eine sinnvolle Auswertung möglich.

Es geht dabei jedoch nicht darum, sich nur entlang dieser Fragen zu hangeln und das Interview übermäßig zu kontrollieren oder zu steuern. Es soll ein natürliches Gespräch entstehen, der Leitfaden dient nur als Grundgerüst.

Offene und neutrale Fragen stellen

Der Interviewer sollte offene und neutrale Interviewfragen stellen, da sie die Teilnehmenden zur freien Rede und zu ausführlichen Antworten animieren.

  • Eine offene Frage enthält keinen Hinweis auf das erwartete Format oder den erwarteten Inhalt der Antwort. Die Frage kann nicht mit ja/nein oder anderen Antwortvorgaben beantwortete werden. Der Befrage ist “gezwungen” eine Antwort in eigenen Worten zu formulieren.
  • Eine neutrale Frage beinhaltet keine impliziten Annahmen und bietet auch keinen Ansatz, irgendetwas auszuschließen oder die Antwort in eine bestimmte Richtung zu lenken. Suggestivfragen sind in jedem Fall zu vermeiden.

 

Nicht mit der ersten Antwort zufriedengeben

Der Interviewer sollte sich nie mit der ersten Antwort zufrieden, sondern immer die Gründe dahinter herausfinden.
Fragen wie “Warum?”, “Wieso?”, “Inwiefern?” und “Woran machst du das fest?” sollten die Lieblingsfragen jedes Interviewers sein.

Wenn man die Gründe für bestimmte Verhaltensweisen oder Antworten kennt, kommen die Ideen für die Optimierung meist von ganz allein.

Pausen aushalten

Es ist wichtig, den Probanden Zeit zum Nachdenken zu lassen und Pausen auszuhalten – auch wenn die Stille unangenehm sein kann. Der Lohn dafür ist meist eine umso umfangreichere Antwort.

Kostenloser Download: So erstellt ihr einen Interview-Leitfaden

Wie ihr Methoden wie die Meister-Schüler-Strategie für euch nutzt und was ihr bei der Formulierung der Interviewfragen beachten solltet, erfahrt ihr in unserem kostenlosen Leitfaden. Mithilfe des Leitfadens könnt ihr auch eure Teammitglieder coachen, selbstständig Interviews durchzuführen.

Fazit: UX-Research ist sogar einfacher als Usability-Testing

Qualitative Interviews (als eine Methode der UX-Research) sind remote möglich und benötigen nicht einmal ein Testobjekt. In einfachen Gesprächen lernt man kontinuierlich von den Zielgruppen und kann dieses Wissen in die Produktentwicklung einfließen lassen.

So entwickelt man ein Produkt mit größtmöglichem Mehrwert für die Zielgruppe und kann es dank guter User Experience zum Markterfolg treiben.

 

Über den Autor

Claudia Sinnig

UX-Lead bei CLICKDOC

Claudia hat unsere Kunden viele Jahre lang in allen Phasen des Human-Centered-Design-Prozesses von der Projektplanung bis zum finalen Design begleitet, darunter BMW, BOSCH, SIEMENS und Melitta. Inzwischen ist sie UX-Lead bei CLICKDOC.

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