Aufgeklärt: 5 Mythen über AI im UX-Research
Bis vor kurzem kannte man künstliche Intelligenz vor allem aus Science-Fiction-Filmen und dystopischer Literatur. Dann kam ChatGPT und plötzlich ist AI nicht mehr aus dem öffentlichen Diskurs wegzudenken.
Auch im UX-Bereich sprießen die Tools, Prompts und Anwendungsfälle für AI förmlich aus dem Boden. Meinungen, Studien, Erfahrungsberichte mehren sich und von geradezu überschwänglicher Euphorie bis hin zu großer Skepsis ist alles dabei. Viele sehen AI als die ultimative Chance für nutzerzentrierte Unternehmensstrategien, andere haben Sorge, dass AI sogar ein Rückschritt für die Einbeziehung echter Nutzerstimmen bedeuten könnte.
Und einige UX-Researcher sorgen sich, dass AI nicht nur ihre Arbeitsweise verändert, sondern vielleicht sogar ihre berufliche Existenz bedroht.
Doch was davon trifft zu, was ist mit Vorsicht zu genießen und was ist schlichtweg falsch?
Auch wir haben uns im Kontext unserer Produktentwicklung intensiv mit AI-Assistenten auseinandergesetzt, wie sie unseren Kunden den größtmöglichen Mehrwert bieten und sogar ihren Impact im Unternehmen verbessern können. Gleichzeitig erkennen wir aber auch, dass bestimmte Risiken real sind und diskutieren, wie wir sie erfolgreich umgehen können.
Werfen wir also gemeinsam einen Blick darauf, welche Mythen über AI sich in den letzten Jahren im UX-Research entwickelt haben und wie AI die UX-Forschung revolutionieren kann, ohne die essenzielle menschliche Note zu verlieren.
Inhaltsverzeichnis
#1 Die Vorteile von AI für UX-Research werden überschätzt
Ja, der Hype rund um AI ist riesig. So gut wie jeder erzählt einem von dem neuesten tollen AI-Tool und fast jede Software hat jetzt ein AI-Feature. Und ganz ehrlich: Einen wirklich echten Mehrwert bieten nur wenige davon. Das heißt aber nicht, dass AI gar nicht für UX-Research taugt. Man muss sie nur richtig einsetzen.
Wir sehen eine große (bisher ungenutzte) Chance für Researcherinnen und Researcher, durch den gezielten Einsatz von AI-Tools ihre Effizienz und auch ihren Einfluss im Unternehmen zu steigern. Denn sie haben das Potenzial, eine Vielzahl der bestehenden Probleme von UX-Research zu lösen.
Das kann AI für UX-Research liefern:
- Studienfrequenz und -output erhöhen: UX-Researcher können mehr relevante Fragestellungen in kürzerer Zeit bearbeiten.
- Strategische und operative Entscheidungen unterstützen: Durch die höhere Studienfrequenz können sie eine Vielzahl von Entscheidungen unterstützen und absichern.
- Mehr Einfluss der UX-Abteilung im Unternehmen gewinnen: Selbst bei kurzen Entscheidungsprozessen können Research und damit echte User involviert werden.
- Nutzerzentrierte Unternehmensstrategie entwickeln: In allen Abteilungen steigt das Zielgruppenwissen und Nutzerverständnis, was sich langfristig positiv auf die strategische Ausrichtung des Unternehmens auswirken kann.
In einer Studie von maze.co mit 1.200 Produkt-Professionals haben 50 % der Teilnehmenden angegeben, dass der Research mit AI-Tools schneller funktioniert und 35 % sagten, sie hätten dank AI-Tools mehr Zeit für strategische Projekte.
#2 AI wird UX-Researchern den Job wegnehmen
Wie in vielen anderen Branchen, geht bei unter UXlern die Sorge um, AI könnte ihren Job früher oder später überflüssig machen. Unserer Einschätzung nach wird eher das Gegenteil der Fall sein: AI hat das Potenzial, das Standing von UX-Researchern im Unternehmen zu verbessern und somit ihre Nachfrage zu erhöhen.
Wir gehen jedoch auch davon aus, dass die Aufgaben von Researchern sich durch AI verändern werden:
UX-Research als Antrieb von strategischen Entscheidungen
Wir erwarten, dass UX-Researcher durch AI einen höheren Stellenwert in der Organisation bekommen werden.
Mit der Unterstützung von AI-Tools werden sie mehr Research-Anfragen in weniger Zeit erledigen und für mehrere Stakeholder gleichzeitig Untersuchungen durchführen können. Durch diese positiven Erfahrungen werden mehr Research-Anfragen gestellt werden, die darüber hinaus einen immer höheren Stellenwert im gesamten Unternehmen haben werden.
Hinzu kommt, dass repetitive und manuell aufwendige Aufgaben, wie die Analyse von Testpersonen-Videos, durch die AI durchgeführt werden können. So hört man sich beispielsweise in Usability-Tests die gleichen Probleme immer und immer wieder von unterschiedlichen Probanden an, während AI-Tools in der Lage sind, die Erkenntnisse innerhalb weniger Minuten zusammenzufassen und zu priorisieren. Die gesparte Zeit kann wiederum für komplexe, strategische Überlegungen und Fragestellungen genutzt werden.
So können UX-Researcher zentrale Partner und sogar Treiber von operativen und strategischen Produktentscheidungen werden.
UX-Researcher als Führungsfiguren der UX-Demokratisierung
Durch AI-Tools wir es immer einfacher, Tests und Research-Projekte mit der eigenen Zielgruppe durchzuführen und zu analysieren. Kleinere oder operative Produktentscheidungen können somit direkt von UX-Designern und Produktmanagern untersucht werden. So kann eine ständige Iteration nah an den Nutzerinnen und Nutzern ohne viel zusätzlichen Aufwand erfolgen.
AI kann daher zu einer starken Demokratisierung von UX-Research führen.
In der Verantwortung der UX-Researcher liegt es dann, diese Demokratisierung zu steuern, d. h.:
- Teammitglieder zu coachen, um eine hohe Qualität der Ergebnisse sicherzustellen.
- Dokumentationsrichtlinien zu entwickeln, sodass alle Insights transparent und nachvollziehbar vorliegen.
- alle Insights zu kennen und zu verteilen, z. B. in strategischen Meetings einbringen können, damit die gesamte Organisation von den Erkenntnissen aller profitiert.
- komplexe und strategische Fragestellungen selbst durchzuführen, um eine valide Entscheidungsgrundlage für alle beteiligten Abteilungen zu schaffen.
Dass die Demokratisierung von UX-Research eine große Chance für Unternehmen ist, belegt die Studie von maze.co: In Unternehmen mit einer demokratisierten Research-Kultur ist es doppelt so wahrscheinlich, dass strategische Entscheidungen von Research-Erkenntnissen beeinflusst werden.
UX-Researcher werden ihre Jobs also nicht verlieren, stehen aber vor einer gemischten Zukunft: Einerseits haben sie ein enormes Potenzial, eine bisher kaum vorstellbare Menge an Insights zu sammeln und sogar Management-Entscheidungen damit zu unterstützen. Auf der anderen Seite stehen sie unter Veränderungsdruck, da auch anderen Professionen der Zugang zu UX-Research erleichtert wird und die zeitlichen und praktischen Hürden, um User-Research durchzuführen, immer weiter sinken.
Insgesamt erwarten wir keinen Rückgang an Arbeit für UX-Researcher, sondern ein anderes Aufgabenbild: mehr Vernetzung und Austausch mit Stakeholdern sowie deren Schulung.
#3 AI-Analysen sind oberflächlich und vermitteln kein tiefgreifendes Zielgruppenverständnis
Es stimmt, dass AI-Analyse oberflächlicher sein können als Tests und Interviews von menschlichen Researchern. In unseren eigenen Studien haben wir jedoch bemerkt, dass die AI zum Teil Insights sammelt, die andere Researcher übersehen haben.
Natürlich macht es auch einen Unterschied im Zielgruppenverständnis, ob man 10 Stunden lang persönliche Gespräche mit Testpersonen geführt hat, oder lediglich die Analyseergebnisse der AI nachvollzieht.
Wir sehen daher AI-Tools ganz klar als Ergänzung und nicht als Ersatz. Research-Teams müssen genaue Richtlinien festlegen, welche Studien von AI-Tools analysiert werden können, ohne an Tiefe und Nutzerverständnis einzubüßen. Und welche Projekte doch weiterhin von erfahrenen Researchern durchgeführt werden sollten. Am besten probiert ihr AI-Analyse mal aus, um passende Use-Cases für euch zu definieren.
Bei der Formulierung dieser Richtlinien hilft es, sich die Schwächen und Grenzen der AI vor Augen zu führen, z. B. wenn es um die Interpretation von Gefühlen geht. Damit vermeidet man auch die „Complacency Trap“, das heißt sich zu sehr auf den Output der AI zu verlassen, ohne die Ergebnisse zu hinterfragen oder über sie hinaus zu denken.
#4 Durch AI-Tools geht die Empathie für die User verloren
Wie schon im vorherigen Mythos angerissen, kann der Einsatz von AI-Tools dazu führen, dass UX-Researcher sich weniger tiefgehend mit den Erkenntnissen aus UX-Tests und Tiefeninterviews auseinandersetzen. Das kann dazu führen, dass sie weniger Zielgruppenverständnis und Empathie für ihre User aufbauen.
Es besteht auch das Risiko, dass die AI auf subtile Nuancen im Kundenfeedback weniger gut eingehen kann, als es geschulte Researcher können. Sehr gute Researcher können nicht nur das Explizite und Offensichtliche erkennen, sondern auch zwischen den Zeilen lesen und auf das Unausgesprochene eingehen, wo mitunter die wahren Goldnuggets verborgen sind.
Hinzu kommt, dass künstliche Intelligenz (noch?) ein Empathie-Defizit hat. AI kann zwar die Intentionen von Usern verstehen, aber nicht die ganze Bandbreite an Emotionen nachvollziehen. Das heißt ihren Analysen fehlt emotionale Intelligenz, sie kann sich nicht in die Emotionen und Reaktionen von Usern hineinversetzen und dadurch können entscheidende Erkenntnisse verloren gehen.
Die Entwicklungen von Emotion-AI und Affective Computing schreiten zwar rapide voran, d. h. Maschinen mit einer solchen Intelligenz können auch nonverbale Signale erkennen, deuten und adäquat auf sie reagieren. Allerdings ändert auch diese Entwicklung nichts daran, dass Researcher sich tiefgehend mit der Zielgruppe auseinandersetzen müssen, um Verständnis und Empathie für das Verhalten ihrer User zu entwickeln. Und wie funktioniert das besser als in Tiefeninterviews?
Deshalb gilt auch hier: Bewerten, welche Use Cases sich für die AI-Analyse eignen und welche nicht. AI-Analysen sind eine Ergänzung, ein Effizienztreiber, aber kein vollständiger Ersatz von empathischen, menschlichen Researchern.
#5 AI-Tools können das Feedback echter User ersetzen
AI-Tools, die vollständig auf echte Nutzer verzichten und stattdessen auf „artificial users“ setzen, stehen wir eher skeptisch gegenüber.
Womit wir allerdings gute Erfahrungen gemacht haben: Large Language Models wie ChatGPT lassen sich gut mit Informationen zu bestehenden Personas füttern, die idealerweise anhand von Research mit echten Usern erstellt und validiert wurden. Stellt man der AI dann Fragen zum Produkt, erhält man recht realistische Antworten, die zumindest weitaus besser sind, als gar keine Research durchzuführen.
Einige AI-Tools reichern Personas darüber hinaus mit Informationen aus Social-Media-Kanälen wie Instagram, Facebook und Reddit an. Auch das kann für einige Zielgruppen eine gute Möglichkeit sein, mehr über die eigenen User zu erfahren, sollte jedoch unserer Meinung nach den Kontakt mit echten Usern nicht vollständig ersetzen.
Ein besonderes Augenmerk sollte bei dieser Art von Tools auf den Datenschutz gelegt werden, da viele von ihnen nicht DSGVO-konform sind und die verwendeten Daten zum Training der AI verwendet werden können.
Fazit: Chance zur Neugestaltung und Stärkung der Rolle von UX-Researchern
Zusammengefasst bietet AI UX-Researchern folgende Chancen:
- Studienfrequenz und -output erhöhen
- Strategische Entscheidungen unterstützen
- Einfluss der UX-Abteilung im Unternehmen stärken
- UX-Research in anderen Abteilungen etablieren und so das Unternehmen nutzerfokussierter ausrichten
Trotzdem sehen wir AI-Tools eher als Ergänzung sowie Unterstützung und nicht als vollständigen Ersatz von eigenständig durchgeführter Research. AI-Tools sollten bewusst und gezielt eingesetzt werden, um den größtmöglichen Nutzen aus ihnen zu ziehen.
Wir prognostizieren, dass AI UX-Researcher ermächtigen kann, indem es ihnen ermöglicht, mehr Zeit für komplexe, strategische Fragestellungen zu verwenden und so tiefere und bedeutungsvollere Einblicke in die Nutzererfahrung zu gewinnen.